Früher war ich Broker, heute bin ich broke

Früher war ich beruflich u.a. auch in London. Zur Zeit reise ich nur in meinen Träumen. Der Verlust des Jobs und ein Geschäftsabschluss, der sich nachteilig ausgewirkt hatte, waren zusammengenommen doch zu viel. Und wenn man sich dann nur von einem befristeten Job zum nächsten hangelt, ist es schwierig, sich eine Stabilität im Leben aufzubauen. So kann man sich kein Leben, eine sichere Zukunft aufbauen – ein Fundament… Vielleicht hätte ich auch alles ganz anders machen sollen, hätte mich als Jugendlicher stärker für meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche einsetzen sollen. Ich sage immer: „Energie, die man in sich trägt und nicht nutzt, richtet sich irgendwann gegen einen selbst.“

Und da bin ich nun. Ich will nicht klagen. Ich bin gesund und achte auch sehr darauf, obwohl es manchmal schwierig ist. Für die Nacht habe ich eine Schlafmöglichkeit gefunden. Manchmal weiß man nicht, ob man wieder da hingehen kann. Anfangs habe ich vom Flaschen Sammeln gelebt. Heute mache ich „Sitzungen“, um durch zu kommen. Das erste Mal war schwierig. Die innere Barriere, sich mit einem Becher in die City zu setzen und sich den Blicken von den Leuten auszusetzen, muss man erst überwinden. Ein anderer Obdachloser hat mir gezeigt, wie es geht. Er hat sich in Sichtweite zu mir gesetzt und hat auf mich aufgepasst . Er hat mir auch den Hinweis gegeben, mit bestimmten Menschen im Obdachlosenumfeld vorsichtig zu sein. Als ich sicherer wurde, habe ich mir irgendwann einen eigenen Platz gesucht. Heute denke ich gar nicht mehr darüber nach, es ist für mich zu einer Gewohnheit geworden. Man sollte vielleicht auch nicht wirklich darüber nachdenken, wenn man in einer solchen Situation ist.

Generell bin ich strukturiert und muss meinen Alltag organisieren. Es beginnt damit, dass man beim Schlafplatz sein Zeug wegräumen muss, damit keiner merkt, dass man da gewesen ist. Dann muss man gucken, wo man seine Kleider waschen und sich duschen kann. Dementsprechend muss man die Tüten packen und zum Teil weite Wege zurück legen und lange warten oder sehen, ob man einen Termin bekommen kann. Das Ganze ist sehr komplex. Sitzungen mache ich normalerweise drei bis fünf Stunden am Tag. Manchmal werde ich darauf angesprochen, wenn ich mal nicht an meinem Platz war. Weniger von anderen Obdachlosen, als mehr von Passanten, die mich mittlerweile kennen. Mit Leuten, die mir etwas geben, unterhalte ich mich nach einiger Zeit auch manchmal und es entstehen „Bekanntschaften“. Einige wissen, dass ich sehr gerne lese und mich für Kulturgeschichte, Politik oder z.B. den amerikanischen Bürgerkrieg interessiere. Mir hat mal jemand Bücher sogar in Originalsprache von einer Geschäftsreise mitgebracht. Die deponiere ich allerdings an meinem Schlafplatz. Bei der Sitzung lese ich nicht, das macht einen schlechten Eindruck. Dann merken die Leute, dass ich nicht bei der Sache bin. Ich muss auch auf viele Sachen aufpassen und vorsichtig sein, weil man draußen ungeschützt ist.

Wenn mich Passanten erziehen wollen und Sachen sagen wie: „Aber nicht für Alkohol ausgeben!“ sage ich dann nichts, aber in mir kommt schon Wut auf. Mit Alkoholikern, Junkies oder Spielsucht habe ich überhaupt nichts zu tun. Ich möchte damit auch gar nicht in Zusammenhang gebracht werden. Ich habe immer versucht, mich davor zu schützen.

Jetzt steht bald die Weihnachtszeit vor der Tür. Da sind die Leute manchmal spendabler. Das Gegenteil ist während der Sommerferien der Fall, da sind viele im Urlaub und die City ist nicht so voll. Schlecht ist es auch, wenn es sehr heiß ist, ich kann selbst nicht genau sagen, warum. Am besten sind gemäßigte Witterungsbedingungen. Im Winter brauche ich allerdings mehr Geld, weil ich mich öfter mal irgendwo reinsetzten und etwas konsumieren muss oder einen heißen Kaffee kaufen muss. Überhaupt trinke ich sehr gerne Kaffee…

Wenn ich jetzt, auch bei einer Tasse Kaffee sitzend, über mein Leben nachdenke, ist es eigentlich ironisch: Früher als Kind wollte ich immer Schauspieler werden, irgendwie in der Öffentlichkeit stehen. Letzteres tue ich jetzt auch. Aber so habe ich mir das nicht vorgestellt…