Frau Frei*

„Ihre Sätze sind unvollständig, abgehackt. Fragmente - scheinbar ohne Zusammenhang. Wir wissen nicht viel über sie - das ist oft so, auch bei anderen. Die Wörter sind wie Teile eines Puzzles. Es bleiben Versuche, sie immer wieder zusammenzusetzen.  Um etwas zu verstehen.

Sie hat viel Schlimmes erlebt, Ereignisse, die ihr den Geist genommen haben. Auch das ist oft so. Es gibt Erlebnisse im Leben, die kaum auszuhalten sind und verdrängt werden müssen.  Sie lebt in ihrer Welt, in ihrem eigenen Film.  Das Drehbuch kennt niemand.  Ihr Film könnte Freiheit heißen. Frei sein. Von allem - auch von der Kleidung. Draußen sein, leben wie ein Tier - sich nicht festhalten lassen. Immer unterwegs auf Frankfurts Straßen. Begegnung ist schwer mit Frau Frei, immer kurz… ein Augenblick. Mehr nicht.

In Beratungsgesprächen mit Menschen, die auf der Straße leben, geht es immer wieder um ähnliche Themen: Traumatisierung durch Gewalt. Missbrauch - oft schon in den Kindertagen. Niemand war da, dem man sich anvertrauen konnte. Niemand, der es hören wollte. Manchmal noch nicht einmal die eigene Mutter oder die Eltern. Abhängig davon, wer es war.

Die Auswirkungen auf die Entwicklung und auf das weitere Leben sind dramatisch. Die Seele ist für den Rest des Lebens zerstört. Die Menschen – und oft sind es auch Frauen - innerlich zerrissen.  Die einen sind noch da - gezeichnet, verhaltensgestört, auffällig, suchtabhängig… aber noch da. Vielleicht noch zu erreichen. Irgendwie, mit viel Zeit. Beziehungszeit. Eine Herausforderung für jeden in der Sozialarbeit… Einfach da sein. Mensch sein und zuhören. Ohne zu bedrängen. Ein Vertrauensverhältnis aufbauen, und für die da sein, denen es besonders an einem stützenden Umfeld fehlt. An sie glauben und ihr Fels in der Brandung sein. Bei den Erfolgen. Und besonders bei Rückschlägen.

Und die anderen verlieren ganz ihren Geist. Wie Frau Frei. Kaum Chancen, sie zu erreichen. Das ist besonders schlimm. Aushalten, zusehen und immer überlegen, was ist jetzt zu tun. Gibt es eine Möglichkeit ihr zu helfen - ihre Lebenssituation zu verbessern? Das ist nicht immer einfach, besonders, wenn alles abgelehnt wird. Die Erkrankung lässt es nicht zu. Viele lassen die Einsicht, dass sie krank sind und Hilfe brauchen nicht zu. Oder sind zu krank, um es überhaupt erkennen zu können.   

Dann ist Hilfe von außen beinahe unmöglich. Denn die fehlende Bereitschaft sich behandeln zu lassen, rechtfertigt keine Unterbringung.  Eine Selbst- oder Fremdgefährdung muss vorliegen. Oft hört man, warum machen sie nichts - sie müssen doch etwas machen.

So leicht ist es nicht. Das geben die Gesetze nicht her. Und nach der Entlassung, das gleiche Spiel. Zurück auf die Straße und dann…?“ 

Sozialarbeiterin Andrea Knechtel über die Begegnungen mit einer obdachlosen Frau, die immer wieder zum Franziskustreff kommt:

* Name geändert