"Ich werde mich immer vom Schicksal obdachloser Menschen berühren lassen."

Bruder Paulus auf dem Liebfrauenforum „Gerechte Stadt?!“

Wie geht die Stadt Frankfurt mit Obdachlosen um?

Moderation: Georg Leppert (Frankfurter Rundschau)
Diskutanten: Bruder Paulus (Stiftungsvorstand der Franziskustreff-Stiftung) // Bernd Reisig (Stiftung „Helfen helfen“) // Tina Zapf-Rodriguez (Fraktionsvorsitzende der Grünen im Römer)

Am Donnerstagabend des 7. Oktober 2021 trafen sich in der Liebfrauenkirche Fachleute, Bürgerinnen und Bürger zum Liebfrauenforum. Die Katholische Erwachsenenbildung hatte zusammen mit dem Citykloster Liebfrauen, Frankfurt eingeladen. Es ging um alle obdachlosen Menschen in Frankfurt und darum, wie ein gerechter Umgang mit ihnen aussehen könnte. Und die Menschen kamen, um zu erfahren: Was tut die Stadt Frankfurt für Obdachlose und was soll sie tun?

Anlass der Debatte war die zunehmende Obdachlosigkeit und aggressive Bettelei in Frankfurt. Die Franziskustreff-Stiftung hatte im Sommer einen runden Tisch mit der Stadtpolitik und den Interessensvertretern gefordert, um das Problem gemeinsam anzugehen. Auch die Medienberichterstattung im Sommer über den Bettler Reiner Schad, hatte die Diskussionsrunde zusätzlich angestoßen. Der, als „Eisenbahn-Reiner“ bekannte, Obdachlose präsentiert sein Spielzeug-Eisenbahn seit 18 Jahren, seit 2016 mit Sondergenehmigung, vor dem Eingang des Liebfrauenklosters.

„Was haben Sie gegen Eisenbahn-Reiner?“ Mit dieser provokanten Frage an Bruder Paulus eröffnete Moderator Georg Leppert die im weiteren Verlauf sehr lebhafte Diskussion.

In der Diskussion darüber, wie der öffentliche Raum in Frankfurt genutzt werden soll, wiegen zuweilen persönliche Ansichten Einzelner stärker als die gemeinsame bürgerliche Vereinbarung. Für Bruder Paulus steht das menschliche Miteinander im Fokus. Und dass man „mit Obdachlosen gemeinsam Wege aus der Misere sucht. Das ist mein Verständnis von sozialer Arbeit und menschlichem Miteinander, nach den Prinzipien der katholischen Soziallehre“, so der Ordensmann weiter. „Ich habe gegen niemanden etwas. Im Gegenteil, ich möchte ja gerade, dass jeder gefördert wird. Dass er zu einem Leben findet, das wir in der Gesellschaft miteinander leben wollen.“

Die scheinbare Gerechtigkeit ist Ungerechtigkeit

Und so forderte Bruder Paulus vor allem, dass wenn Herr Schad so auf der Straße sein dürfe, es auch anderen Menschen erlaubt sein solle, an Plätzen dieser Stadt so zu sein.  „Jeder Mensch hat eine unverlierbare Würde und darum gehört zum Miteinander eine Gerechtigkeit. Hier empfinde ich eine gewisse Ungerechtigkeit. Man erteilt einfach an einer Stelle eine Ausnahmegenehmigung und es ist egal, wie es den Bürgern dabei geht. Hauptsache man kommt aus der Sache fein raus. Im Grunde wird Herr Schad durch die Ungerechtigkeit entwürdigt.“

Bernd Reisig sieht das ganz anders, und findet es „würdig, was Herr Schad da tut“. Hier habe „ein Mensch ein Stück Glück gefunden und sei „dort heimisch geworden. Und stören tut er auch niemanden.“ Auch für Frau Zapf-Rodriguez hat die „Lebensform von Herr Schad ihre eigene Form von Würde. Vielleicht kommt er dadurch auch mit den Bürgern und Touristen ins Gespräch“, so die Politikerin. Und weiter „da er sich dort wohlfühlt, soll er auch dort bleiben können.“

Das Wünschen, die Stadt und die Willkür

„Ist das in Frankfurt so geregelt, dass die Bürgerinnen und Bürger einfach das tun können, was sie wollen und jeder nach seiner Façon glücklich werden kann?“, fragte Bruder Paulus die Grünen-Politikerin Zapf-Rodriguez. Denn er kenne „Obdachlose, die mehrmals vergeblich versucht haben, eine Erlaubnis von der Stadt zu bekommen, um sich als Seifenblasbläser hinstellen zu können.“ Und „andere versuchen schon seit Jahren in Frankfurt an irgendeiner Stelle eine ganz kleine Würstchenbude hinzustellen, um sich und ihre Familie durchzubringen.“ Stadtverordnete Zapf-Rodriguez stellte dazu fest, „dass wir schauen müssen, wie wir verschiedene Bedürfnisse miteinander austarieren.“ Herr Reisig, betonte, dass es „auch immer die Einzelfallprüfung gibt. Und die hat die Stadt im Fall von Herrn Schad vorgenommen, die für die Regeln des Zusammenlebens zuständig ist.“

Gleiche Regeln für alle

„Wohin soll das führen?“ fragte Leppert Bruder Paulus. „Ich frage mich, wer in dieser Stadt eine Ausnahmegenehmigung bekommt“, antwortete er. „Denn Ausnahmen brauchen Regeln, sonst bleibt es Willkür“, so der Geistliche weiter. In solch einer Gesellschaft würde er sich unwohl fühlen. Und fragte Frau Zapf-Rodriguez, ob sie „es begrüßen würde, dass die Franziskustreff-Stiftung alle Obdachlosen einlädt, die in Frankfurt ihr Örtchen gefunden haben, an dem sie gerne sind. Und gemeinsam mit ihm prüfen würde, „ob diese Menschen auch an der Stelle bleiben können.“ Bruder Paulus zufolge solle „das dahinführen, dass in dieser Stadt auch den Obdachlosen Gerechtigkeit zuteilwerde. Denn es werden ja andere Obdachlose benachteiligt.“ Die Römer-Stadtverordnete entgegnete dem nichts.

„Obdachlosigkeit ist in der Politik angekommen“

Stiftungsgründer Reisig bemängelte, dass man sich in der Stadt Frankfurt zu sehr mit „Armut und Elend abfinde.“ Ihm fehlten die Konzepte, wie man diesen Trend stoppen und zurückfahren könne. Bruder Paulus brachte drei Vorschläge ins Spiel, die die Obdachlosenarbeit in Frankfurt weiterbringen würden: 1. Obdachlose sollten mehr Einzelzimmer in Unterbringungseinrichtungen angeboten bekommen, damit sie zur Ruhe kommen können; 2. Ein Drogenkonzept für das Bahnhofsviertel à la Züricher Modell mit enger Zusammenarbeit unter den Behörden wie Polizei, Sozialamt und Gesundheitsamt; 3. Ärztliche Versorgung von psychischen kranken Obdachlosen. Zapf-Rodriguez konstatierte, dass das Thema Obdachlosigkeit in der Politik angekommen sei und eine Priorität habe. Im Koalitionsvertrag sei daher das Konzept Housing First vorgeschlagen. „Die Realisierung ist nicht einfach und erfordert Machbarkeitsstudien und wird zunächst als Pilotprojekt getestet“, dämpfte sie allerdings die Erwartungen. Der Vorstand der Franziskustreff-Stiftung, Bruder Paulus ergänzte, dass die Stiftung „einen Schritt in Punkto Housing First gemacht hat.“ Und die Bürger, die Wohnungen hätten, gerne an ihre Gemeinwohlverpflichtung erinnere: „Ob sie nicht eine Ihrer Wohnungen einem Obdachlosen zur Verfügung stellen. Wir binden die Bürger in das Housing First Konzept ein.“

Zwangsräumungen präventiv angehen

„Gleichwohl wäre es Aufgabe der Politik, Wege zu finden, um Zwangsräumungen zu vermeiden“, ergänzte Bruder Paulus. „Denn die ABG und andere Wohnungsbaugesellschaften müssen ja Zwangsräumungen machen. Könnten sie nicht einen Sozialarbeiter einstellen und einfach sagen: Wir machen Präventionsarbeit?“ schlug er vor. „Man weiß doch, dass jemand seine Post nicht geöffnet und die Miete nicht bezahlt hat. Da kann man mal klingeln gehen“, so der Geistliche weiter.

Weihnachtsgeschäft - Aggressive Bettler und Straßenmusiker auf der Zeil

„Wie steht es um das bevorstehende Weihnachtsgeschäft?“ fragte Moderator Leppert in die Runde. Denn das diesjährige Weihnachtsgeschäft sei „für die Händler auf der Zeil und in anderen Innenstadtstraßen von besonderer Bedeutung, weil es im letzten Jahr ausgefallen ist“, so Leppert. Nach seiner Einschätzung werde die Politik sehr bald mit Klagen des Einzelhandels über Bettler, Obdachlose und Straßenmusiker vor den Geschäften konfrontiert werden. „Wie werden Sie als Politik mit diesen Vorstößen aus der Wirtschaft umgehen?“, fragte er die Grünen-Politikerin Zapf-Rodriguez. „Da muss man sich mit dem Einzelhandel an einen Tisch setzten. Es braucht ein Konzept“, antwortete die Stadtverordnete. Zudem brauche es „ein ämterübergreifendens Konzept, was Zwangsbetteln angeht. Wir müssen darüber kommunizieren, wie wir die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse austarieren können“, so Zapf-Rodriguez. Auch Herrn Reisig beschrieb Zwangsbetteln als problematisch, da sich dadurch „viele Menschen unmittelbar bedroht fühlen.“

Auf die Tagesordnung: Wohnraum, Multi-Kulti-Sozialarbeiter, Straßennutzungsordnung

„Seit zehn Jahren diskutieren wir darüber, wie wir Menschen von der Straße in eine wohnähnliche Situation bringen, aber es passiert zu wenig“, bemängelte Bernd Reisig. Er appellierte an die Politik, Lösungen schneller herbeizuführen. „Aber die Lösungen kosten Geld“, so der Eventmanager Reisig. Seiner Meinung nach müsse eine reiche Stadt wie Frankfurt, „die sich ein Schauspielhaus in der Sanierung für 900 Mio. Euro leistet“, auch in der Lage sein „eine schnelle Hilfe für obdachlose Menschen zu organisieren, indem 100 Wohncontainer bestellt werden, und einfach eine Fläche gefunden und versucht wird einen ersten Schritt zu gehen.“ Bruder Paulus bat die Politik „einen Pool von Rumänisch, Bulgarisch und Polnisch sprechenden Sozialarbeitern einzurichten, die in Frankfurt mit den obdachlosen Menschen menschenwürdig reden. Und ihnen sagen zu können: Wir verstehen deine Situation.“ Und weiter: „Wir brauchen in Frankfurt eine Multi-Kulti-Sozialarbeit. Die fehlt hier.“ Der Kapuzinermönch, der in der Frankfurter Innenstadt wohnt, empfahl der Politik weiterhin „noch einmal die Straßensatzung und die Straßennutzungsordnung zu lesen.“ Und als „Politik noch einmal auf die bürgerliche Vereinbarung zurückzukommen und zu schauen, wie die Nutzung der Straßen in Frankfurt geordnet ist.“ Laut Bruder Paulus darf und muss man Mitmenschen, die sich aggressiv bettelnd in der Innenstadt bewegen, auch sagen: „Wir wollen das so nicht. Wir wollen nicht, dass ihr euch so darstellt.“ Und entsprechend sie des Platzes verweisen.

Zapf-Rodriguez: „Viel auf Augenhöhe reden“

Politikvertreterin Zapf-Rodriguez entgegnete auf die Empfehlungen von Bernd Reisig und Bruder Paulus, dass es „sehr wichtig ist, zu kommunizieren, reden, viel auf Augenhöhe reden. Das fehlt, wenn Menschen obdachlos sind.“ Die „Kommunikation und sich mal austauschen können“ ist für sie „der Weg.“ Sie pflichtete Reisig in dem Punkt bei, dass „die Politik mal machen und endlich ins Tun kommen muss.“ Es gehe beim Helfen aber auch um ein gesamtgesellschaftliches Gefühl. Da sei laut Zapf-Rodriguez „am Ende nicht nur die Politik gefragt, sondern die gesamte Stadtgesellschaft, um in Frankfurt etwas zu ändern und zu erreichen.“ Wichtig sei dabei „gut miteinander umzugehen und unsere Werte von Solidarität, Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung hochzuhalten.“ Und schloss mit dem optimistischen Fazit: „Wir wagen den Aufbruch in der Politik, aber auch in der ganzen Stadt.“ Bernd Reisig bot ihr daraufhin an, Sponsoren und Spender zu suchen und zu finden für die Anmietung und den Betrieb von bis zu 150 Wohncontainern für obdachlose Menschen; die Stadt müsse dafür nur genügend Freiflächen zur Verfügung stellen. Frau Zapf-Rodriguez ließ das Angebot unkommentiert.  Was aus dem Vorschlag wird, wird sich zeigen, meinte Bruder Paulus. Der Stadtverordneten dürfte wohl bekannt sein, dass es ist eine Pflichtaufgabe der Stadt ist, für die Unterbringung obdachloser Menschen zu sorgen. Dieser Pflicht genügt die Stadt Frankfurt durch Unterbringungsmöglichkeiten im Ostpark, in der Einrichtung Weser5 und anderen Einrichtungen, zudem sind obdachlose Menschen in einigen Hotels in Frankfurt untergebracht.

Nochmal Eisenbahn-Reiner: Ein Leben ohne Dach über dem Kopf ist menschenunwürdig

Der Abend endete, so wie er begann: mit einer Frage an Bruder Paulus zu Eisenbahn-Reiner. „Sehen Sie eine Möglichkeit, dass der Konflikt mit Eisenbahn-Reiner aufweicht, und uns nicht die nächsten Jahre noch begleitet?“, fragte ihn Moderator Leppert. Die Antwort von Bruder Paulus beleuchtete schlaglichtartig den springenden Punkt in der Debatte um Reiner Schad: „Ich möchte mir niemals sagen, es sei normal, dass jemand ohne Dach über dem Kopf in unserer Gesellschaft leben kann. Ich will mir das nicht nehmen lassen – von niemandem. Und wenn mir jemand sagt: Du lass mich doch noch ein paar Jahre auf der Straße leben, dann kann er das gerne sagen, aber ich werde es mir nie zur Normalität machen, dass ein Obdachloser einfach obdachlos ist. Das darf nicht sein. Ich werde mich immer von dem Schicksal obdachloser Menschen berühren lassen. Immer.“

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